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Kommentar

von Christian Mertens

Der inhaltliche Diskussionsprozess in der ÖVP war höchst an der Zeit, die viel schmerzvollere Strukturdebatte steht noch aus.

"Modern in den Wegen. Fest in den Werten" lautete das Motto des Leitantrags zum 33. Bundesparteitag der ÖVP am letzten Samstag. Er versteht sich als erster Zwischenbericht aus den Perspektivengruppen und konzediert, dass die Partei den Veränderungen des wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Lebens "bei ihrer eigenen Politik Rechnung tragen" müsse. Inhalte und Positionen sollten die "Besonderheiten und daraus resultierende Notwendigkeiten der Städte und ihrer Bürgerinnen und Bürger stärker als bisher widerspiegeln".

Tatsächlich waren in den vergangenen Wochen ungewohnte Töne von ÖVP-Spitzenleuten zu hören. So ventilierte Generalsekretär Hannes Missethon eingetragene Partnerschaften für homosexuelle Paare oder die Wiener Stadträtin Katharina Cortolezis-Schlager rüttelte als Leiterin der Perspektivengruppe Bildung am Dogma getrennter Schulen für 10-bis 14-Jährige. Auch Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky lässt kein heißes Eisen aus und verschreckt mit ihren Vorstößen schon einmal konventionelle Parteikader oder ÖVP-nahe Interessengruppen, was sich in ihrem Parteitagsergebnis - nur 85,95 Prozent der Delegierten stimmten für sie als Parteivize - merkbar niederschlug.

Tatsächlich hat sich in Österreichs zweitgrößter Partei seit dem Wahlschock des 1. Oktober einiges geändert. Noch vor einigen Monaten war die Volkspartei als Kanzler-Wahlverein ausgerichtet, das Generalsekretariat, in dem es mit Personen wie Hermann Withalm oder Michael Graff eine Tradition hochpolitischer Köpfe gibt, wurde zur Marketingabteilung degradiert, neue Themen "von oben" dekretiert; die Ministerriege und der Klub hatten diese Vorgaben dann zu exekutieren. Widerspruch war verpönt, Abweichler erhielten rüde Verweise oder wurden mit eisiger Ignoranz bestraft. Nicht anders erging es der sozialliberalen Initiative Christdemokratie (ICD), die Parteiobmann Wolfgang Schüssel immer wieder mit unbequemen Themen wie Kritik an schikanösen Bedingungen im Fremdenrecht, der Einrichtung einer Wertekommission (analog zur CDU) oder doppelten Staatsbürgerschaften spürbar auf den Nerv ging. Ganz anders Wilhelm Molterer: Auf seine Veranlassung hin wurde der Kontakt zwischen ICD und Josef Pröll, dem Leiter der Perspektivengruppe, hergestellt und mit diesem konkrete Punkte der Kooperation vereinbart.

Ist die ÖVP nun "liberaler" geworden? War sie bisher "konservativer"? Nein, die neue Parteiführung hat erkannt, dass diese Begriffe kein Widerspruch sein müssen: Aufgeschlossene christdemokratische Politik steht weder im Gegensatz zu Wertverbundenheit noch zu Liberalität (im Sinne von Toleranz und Aufgeschlossenheit) noch zu sozialer Gemeinwohlorientierung, sondern bedingt und vereint in sich alle drei Facetten. Wie Angela Merkel und ihre CDU scheint auch Molterer Christdemokratie als weite Klammer von christlich-sozialen, christlich-liberalen und christlich-konservativen Strömungen, als Chance auf weltanschauliche Breite und Tiefe zu verstehen.

Die Partei hat noch einiges an Diskussion vor sich - weit über den Perspektivenprozess hinaus. Es geht um Nachhaltigkeit, um den Ersatz der im Parteiapparat oft tief verankerten "Entweder-oder"-Mentalität durch eine "Sowohl-als-auch"-Einstellung, die wiederum nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden darf: Wenn ich als christlich inspirierter Mensch die Liebe in den Mittelpunkt stelle - und damit befinde ich mich angesichts der letzten päpstlichen Enzyklika durchaus in guter Gesellschaft - kann ich genauso Verständnis für die Anliegen einander in Liebe und Treue verbundener Homosexueller haben wie für die spezifischen Bedürfnisse kinderreicher Familien, die tatsächlich mit einer Vielzahl an Problemen von der Armut bis zur Kinderbetreuung zu kämpfen haben.

Neben der inhaltlichen Debatte wartet auf die ÖVP aber ein noch viel schmerzvollerer Diskussionsprozess, der an die Wurzeln der Probleme dieser Partei geht: die Erneuerung ihrer archaischen Struktur, die Hauptverursacher dafür ist, dass kleinkarierte Geister das "Sowohl-als-auch"-Prinzip durchaus auf Basis klarer Wertvorstellungen nicht begreifen können. Schon lange entspricht das seit 1945 bestehende und auf die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse abgestellte Organisationsprinzip der ÖVP nicht mehr der Realität. Nicht selten sind es Vertreter jeweiliger Lobbys aus Bauern- und Beamtenschaft bzw. Gewerbe die weniger auf einer Bewahrung von Werten als auf einer Beharrung auf Strukturen bestehen. Die in diesem Rahmen tradierte Parteiarbeit begünstigt jene, die viel Zeit haben - der Politikwissenschaftler Warnfried Dettling spricht vom "Zeitadel" einer Partei - und dadurch überdurchschnittlichen Einfluss ausüben, den sie auch weiter behalten wollen. Wer aus dieser "Ochsentour" hervorgeht, ist oft zum "Ochs" ohne eigene Meinung geworden. Durch diese herkömmliche Organisationsstruktur werden andererseits gerade jene Bevölkerungsgruppen nicht erfasst, die die ÖVP laut ihrem Leitantrag ansprechen möchte: eher jüngere, besser gebildete und in Städten wohnende Menschen, freiberuflich Tätige, höhere Angestellte im Dienstleistungssektor, Studierende, berufstätige Mütter oder Aufsteiger der sogenannten "2. Generation" von Zuwanderern.

Die momentanen ÖVP-Teilorganisationen müssten - nach dem Vorbild der CDU und anderer Schwesterparteien - zu Rahmenorganisationen unter vielen werden. Die Gremien der ÖVP würden somit nicht länger aus Vertretern der Bünde selbst beschickt. Ergänzend zu ihnen müssten Arbeitskreise, Impulsgruppen und Initiativen antreten, in denen sich Menschen um gewisse Themen, Projekte und Ideen zusammenfinden, so wie jetzt im Perspektivenprozess. Sie können "Andockstationen" für auch nur punktuelle Mitarbeit von "Zeitarmen" sein und neue Wege bei der Personalrekrutierung erschließen.

Dann, erst dann, wird die Partei wirklich eine moderne, urbane christdemokratische Partei sein, die die Menschen und ihre ganz unterschiedlichen Bedürfnisse zu erkennen und zu vertreten vermag. Dann wird aus den derzeitigen Lichtblicken - um bei dieser Metapher zu bleiben - nachhaltig strahlender Sonnenschein werden!

Christian Mertens ist Historiker und Mitbegründer der sozialliberalen "Initiative Christdemokratie" (ICD) in der ÖVP.

 
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