Maß nehmen am Menschen Drucken

Über die Stärken christdemokratischer Grundsätze und die Schwächen ihrer Umsetzung.

von Christian Mertens 

Vor wenigen Wochen verkündete die ÖVP den Start einer umfassenden Programmdebatte, die 2010 in ein neues Grundsatzprogramm münden soll. Wird diese ernsthaft und konsequent geführt, eine echte Chance: Schon bisher mangelte es nicht an klaren Grundsätzen der sich christdemokratisch definierenden Partei, die ihre „gesellschaftspolitischen Grundsätze aus dem christlichen Bekenntnis zur Würde des Menschen“ begründet. Doch im Gegensatz etwa zu den Sozialdemokraten tun sich in der Praxis gerade die Funktionäre der ÖVP schwer, ihre politischen Ziele und Handlungen über den politischen Alltag hinaus in einen programmatischen Kontext zu stellen oder mit Visionen bzw. einer „großen Idee“ – wie sie einst die Ökosoziale Marktwirtschaft (Riegler) oder die Forcierung des Eigentumsgedankens (Prinke) war – zu verknüpfen. Am falschen Fuß erwischt bezeichnen sich viele „Övaupeler“ dann wahlweise als „konservativ“, „liberal“ (als ob diese Begriffe Gegensätze sein müssten), „bürgerlich“ (was immer sich dahinter verbergen mag), allenfalls als „christlich-sozial“. Ob es wohl an der üppigen Zahl von Interessensvertretern liegt, die die Strukturen der Partei dominieren und sich im Wesentlichen nur ihrer jeweiligen Lobby verpflichtet fühlen? Thomas Köhler gibt darauf in seinem Beitrag eine klare Antwort!

Politik bedarf langfristiger Ziele und Herausforderungen, um große Vorhaben zu verwirklichen und den Menschen Ausblicke, Ziele sowie Hoffnungen zu vermitteln, um ganz generell zukunftsfähig zu sein! Nicht nur religiös inspirierte Politikerinnen und Politiker wären gut beraten, sich zumindest ein wenig von ihrem offiziellen Schutzpatron, dem Heiligen Thomas Morus, inspirieren zu lassen. Dieser große Humanist zeichnete sich nicht nur durch Glaubenstiefe und Prinzipientreue aus, sondern gilt mit seinem Werk „De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia“ auch als Begründer der neuzeitlichen Utopien, als Vater politischer Visionen von Staat und Gesellschaft. Nun muss kein politischer Verantwortungsträger gleich ein gesellschaftliches Idealmodell entwickeln. Es täte der Politik gerade in Österreich gut, einmal aus dem Strudel pragmatischer Tagespolitik herauszuschwimmen und das programmatische Ziel vor dem (meist parteitaktisch oder interessenspolitisch gewählten) Weg zu definieren. Ohne programmatischen Unterbau verkommt politische Praxis zu Populismus, Pragmatismus und Beliebigkeit. Wer nicht weiß, worauf er steht, verliert leicht den Boden unter den Füßen!

Ausgangspunkte christdemokratischer Theorie sind Glaube und Vernunft. Der säkulare Staat, der sich ab 1789 entwickelte, stellte auch die Christen vor die Herausforderung der Mitwirkung in der Politik. In gewisser Weise können die pretres constitutionels der Französischen Revolution, die von Jesus Christus als dem ersten Demokraten sprachen, als Frühform christlich inspirierter Demokraten gesehen werden. Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte Félicité de Lamennais, ein französischer Priester und Philosoph, beeinflusst von Rousseau eine umfassende und theologisch fundierte christliche Demokratietheorie, in der er das Christentum mit den Gedanken der Aufklärung in Verbindung brachte. Spätestens im Umfeld der Revolutionen von 1848 und der sozialen Umwälzungen im Zuge der Industrialisierung gewann „christliche Demokratie“ eine eindeutig politische Dimension mit dem Ziel einer gerechteren Gesellschaftsordnung. Den entscheidenden Durchbruch erzielten christdemokratische Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie sich zu überkonfessionellen Volksparteien weiterentwickelten. Sie übernahmen in vielen Staaten Regierungsverantwortung und initiierten maßgeblich die europäische Integration. Entscheidendes Merkmal ist, dass sie – im Gegensatz etwa zum politischen Katholizismus der Zwischenkriegszeit – keine konfessionelle (in starker organisatorischer Verschränkung mit der Kirche) oder klerikale (in starker inhaltlicher Abhängigkeit zur Kirche) Politik betreiben, sondern als säkulare Parteien Religion als ethisch-religiösen Impuls für ihr politisches Handeln verstehen. Der Maß-lose Anspruch, Politik direkt aus der Bibel ableiten zu können, bleibt Fundamentalisten und politischen Splittergruppen überlassen.

Ist Politik aus christlicher Inspiration denn aktuell? Die Herausforderungen unserer Zeit, vom Platzen der turbokapitalistischen Spekulationsblasen und die darauf folgende reflexartige sozialdemokratische Beschwörung des allgegenwärtigen, bevormundenden Staates über die Ausgrenzung älterer und behinderter Menschen (Stichwort Sterbehilfe) oder die Einflussmöglichkeiten von Wissenschaft und Forschung auf unser Leben (Stichworte Gentechnik und Biomedizin) bis hin zur digitalen Vollerfassung des Menschen (Stichwort „gläserner Mensch“) zeigen, dass es gerade heute einer Politik bedarf, die Maß am Menschen und seinen individuellen Bedürfnissen wie Fähigkeiten nimmt, die den Freiheitsbegriff an Verantwortung bindet, die der Marktwirtschaft einen sozialen und ökologischen Ordnungsrahmen verpasst, die den Menschen Leistung ermöglicht, ihnen aber dort unter die Arme greift, wo sie sich selbst nicht mehr helfen können (Subsidiarität).

Das Menschen- und Gesellschaftsbild christlicher Demokraten stellt genau das in den Mittelpunkt. Als von Natur aus auf Gemeinschaft hin angelegtes Wesen ist der Mensch fähig zu Solidarität und braucht selber Solidarität. Dieser Zugang unterscheidet sich maßgeblich vom Liberalismus, für den die Gemeinschaft nur auf dem Egoismus des Einzelnen beruht. Ziel ist aber nie die Gesellschaft als abstraktes Ganzes, als Kollektiv, in dem der Einzelmensch völlig aufgeht (Marxismus), sondern immer die Person. Gerade dieses Verständnis ist Voraussetzung für das Denken in Kategorien wie Nachhaltigkeit, Immaterialität oder Ganzheitlichkeit – allesamt Begriffe, die in den Zeiten des raschen Geldmachens als antiquiert belächelt wurden.

Christdemokratische Politik steht also weder im Gegensatz zu (Wert-)Konservativität noch zu Liberalität noch zu sozialer Gemeinwohlorientierung, sondern vereint in sich alle drei Facetten. Sie erschöpft sich nicht „in Suppenküchen und Sozialfürsorge, ‚Teilen’ und Umverteilung, Krankenhaus und kollektivem ‚Kitt’. Das Christliche ist ... sozialethisch mehr als ein Reparaturbetrieb oder Lazarettwagen im Tross der Marktwirtschaft“, wie uns der deutsche Publizist Andreas Püttmann so treffend hinweist. Dabei wird neben dem Wert stiftenden (konservativen) auch der liberale Aspekt des Menschen- und Gesellschaftsbild christlicher Demokraten außer Acht gelassen. Gerade der christliche Glaube stellt mit der Würde des Menschen und seinen unveräußerlichen Rechten die (verantwortete) Freiheit in den Vordergrund. Im Sinne der Subsidiarität sind zuerst die eigenen Kräfte und Fähigkeiten gefragt, bevor nach dem Staat bzw. der Kommune gerufen wird. Freiheit bedeutet, das Leben selbst in die Hand zu nehmen (gemeint ist die Freiheit zu etwas statt dem sozialistischen Ansatz der Freiheit von etwas!) und auch Fehler wie Versäumnisse einzugestehen.

Tatsächlich gibt es einen Mangel an Orten, an denen intellektuelle Begegnung stattfindet und wertbasierte Visionen über den pragmatischen Alltag hinaus entwickelt werden können. Nutzt die ÖVP die Chance der Programmdiskussion dafür?

Der Historiker Christian Mertens ist Mitbegründer der sozialliberalen „Initiative Christdemokratie“ (ICD) und war Mitglied der ÖVP-Grundsatzkommission 1995. Vor kurzer Zeit erschien das gemeinsam mit Thomas Köhler, Christoph Neumayer und Michael Spindelegger herausgegebene Buch „Stromabwärts. In Mäandern zur Mündung – Christdemokratie als kreatives Projekt“ im Böhlau-Verlag.