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Der Christdemokratie könnte angesichts der Krise die Zukunft gehören – wenn deren nominelle Vertreter wüssten, mit ihren Ansprüchen umzugehen.

von Christian Mertens

Über die Ursachen der gegenwärtigen umfassenden Wirtschaftskrise ist viel geschrieben worden. Sie alle lassen sich im Grunde auf ethische Defizite der handelnden Personen zurückführen: Verantwortungslosigkeit, Maßlosigkeit, Gier, Korruption usw. Zeigen nicht das Platzen der turbokapitalistischen Spekulationsblasen und die darauf folgenden konventionellen linken Reflexe – die Beschwörung des allgegenwärtigen, bevormundenden Staates –, dass es gerade heute einer Politik bedarf, die Maß am Menschen und seinen individuellen Bedürfnissen wie Fähigkeiten nimmt, die den Freiheitsbegriff an Verantwortung bindet, die der Marktwirtschaft einen sozialen und ökologischen Ordnungsrahmen verpasst, die den Menschen Leistung ermöglicht, ihnen aber dort unter die Arme greift, wo sie sich selbst nicht mehr helfen können (Subsidiarität)?

Das Menschen- und Gesellschaftsbild christlicher Demokraten stellt genau das in den Mittelpunkt. Als von Natur aus auf Gemeinschaft hin angelegtes Wesen ist der Mensch fähig zu Solidarität und braucht selber Solidarität. Dieser Zugang unterscheidet sich maßgeblich vom Liberalismus, für den die Gemeinschaft nur auf dem Egoismus des Einzelnen beruht. Ziel ist aber nie die Gesellschaft als abstraktes Ganzes, als Kollektiv, in dem der Einzelmensch völlig aufgeht (Marxismus), sondern immer die Person. Gerade dieses Verständnis ist Voraussetzung für das Denken in Kategorien wie Nachhaltigkeit, Immaterialität oder Ganzheitlichkeit – allesamt Begriffe, die in den Zeiten des raschen Geldmachens „uncool“ waren.

Geht es also nach der „Papierform“, spräche alles für eine Renaissance der Christdemokratie – gäbe es nicht höchst populäre Missverständnisse und Irrtümer.

Missverständnis 1: Die Trennung von Staat und Kirchen/Religionsgemeinschaften  wird mit der Trennung von Politik und Religion verwechselt.
Nicht selten wird daher der christliche Glaube als Quelle der politischen Inspiration schamhaft unter den Tisch gekehrt – eine falsche Scham! Aus dem Respekt vor der Freiheit des Menschen ist es dem säkularen Staat versagt, sich mit einem bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis auf Kosten Andersgläubiger zu identifizieren. Mit dieser Nicht-Identifikation ist allerdings kein indifferenter Neutralismus, keine  Wertneutralität oder ein Abdrängen der Religion als „rein private“ Angelegenheit aus der Öffentlichkeit verbunden. Die Trennung von Staat und institutionalisierter Religion impliziert keinesfalls den Ausschluss der Religion oder religiös inspirierter Beiträge aus dem öffentlich-politischen Diskurs!

Missverständnis 2: Christdemokratische Politik wird mit konfessioneller Politik gleichgesetzt.
Spätestens im Umfeld der sozialen Umwälzungen im Zuge der Industrialisierung gewann die Idee einer „christlichen Demokratie“ eine eindeutig politische Dimension mit dem Ziel einer gerechteren Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die sowohl in- als auch außerhalb der Kirchen ausformuliert und diskutiert wurde. Christdemokratische Politik hat deswegen aber nichts mit religiöser Politik zu tun! Sie ist – im Gegensatz etwa zum politischen Katholizismus der Zwischenkriegszeit – keine institutionell-konfessionelle oder inhaltlich-klerikale Politik, sondern ein säkularer, ethischer Appell religiöser Inspiration. Deshalb können auch Nichtgläubige und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften selbstverständlich Christdemokraten sein.

Missverständnis 3: Christdemokratische Politik wird auf die soziale Komponente reduziert („christlich-sozial“).
Abgesehen vom unangenehmen Beigeschmack, dass die lautesten vorgeblichen „Christlich-Sozialen“ in Wahrheit oft die strukturkonservativsten Standesvertreter sind, verkürzt diese Sichtweise Verantwortung aus christlicher Inspiration auf die Sozialpolitik, als erschöpfe sich das Christliche ethisch in Suppenküchen und Sozialfürsorge. So mancher unbedarfte „bürgerliche“ Politiker könnte leicht den fatalen Umkehrschluss ziehen, wenn das christlich inspirierte Gewissen für die sozialen Belange zuständig wäre, gelte in der Wirtschaftspolitik dann ohnehin das kapitalistische Prinzip oder in der Gesellschaftspolitik strukturkonservative Beharrung. Dabei wird etwa völlig der liberale Aspekt der Christdemokratie außer Acht gelassen. Gerade der christliche Glaube stellt mit der Würde des Menschen und seinen unveräußerlichen Rechten die (verantwortete) Freiheit in den Vordergrund. Im Sinne der Subsidiarität sind zuerst die eigenen Kräfte und Fähigkeiten gefragt, bevor nach dem Staat bzw. der Kommune gerufen wird. Freiheit bedeutet, das Leben selbst in die Hand zu nehmen und auch Fehler wie Versäumnisse einzugestehen.

Christdemokratische Politik steht also weder im Gegensatz zu (Wert-) Konservativität noch zu Liberalität noch zu sozialer Gemeinwohlorientierung, sondern vereint in sich alle drei Facetten. Sie muss der Ort der Mäßigung und des Bewahrens zwischen den Polen eines ängstlich beharrenden Strukturkonservativismus (zu dem in Österreich in vielerlei Hinsicht auch die Interessensvertretungen zählen) und eines Menschen verachtenden, technokratischen Casino-Kapitalismus sein.

Die Herausforderungen unserer Zeit sind vielfältig; sie reichen vom ungleichen Wettbewerb im Rahmen der Globalisierung über die Ausgrenzung älterer und behinderter Menschen (Stichwort Sterbehilfe) oder die Einflussmöglichkeiten von Wissenschaft und Forschung auf unser Leben (Stichwort Biomedizin) bis hin zur digitalen Vollerfassung des Menschen (Stichwort „gläserner Mensch“). Wann, wenn nicht jetzt brauchen wir eine Politik, die wieder Maß am Menschen und seinen Bedürfnissen nimmt. Es gilt, den nur scheinbar nicht mehr modernen Begriff „Christdemokratie“ glaub- wie beispielhaft in Taten umzusetzen! Ob es der ÖVP (die sich im – noch – aktuellen Parteiprogramm als „die christdemokratische Partei“ bezeichnet) gelingt?

Der Historiker Christian Mertens ist Mitbegründer der sozialliberalen „Initiative Christdemokratie“ (ICD). Vor kurzer Zeit erschien das gemeinsam mit Thomas Köhler, Christoph Neumayer und Michael Spindelegger herausgegebene Buch „Stromabwärts. In Mäandern zur Mündung – Christdemokratie als kreatives Projekt“ im Böhlau-Verlag.