Über den pragmatischen Alltag hinausdenken
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von Christian Mertens 

Österreichs große Koalition verwaltet das Land – von „großen Würfen“ oder klaren Visionen für die Zukunft ist wenig zu sehen. Aber auch von der Opposition ist kaum Innovatives zu hören. Ein Befund zum Jahresende und ein Wunsch für das neue Jahr.

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, empfahl Franz Vranitzky einst seinem Parteifreund und heutigen Bundespräsidenten Heinz Fischer. Schon Jahre zuvor hatte der pragmatische deutsche Kanzler Helmut Schmidt seinem Vorgänger Willy Brandt den gleichen Rat erteilt. Doch scheint nicht eher das Gegenteil richtig zu sein? Bedarf nicht gerade die Politik langfristiger Ziele und Herausforderungen, um große Vorhaben zu verwirklichen und den Menschen Ausblicke, Ziele sowie Hoffnungen zu vermitteln, um ganz generell zukunftsfähig zu sein? Da empfiehlt es sich doch eher, gerade jenen Politikerinnen und Politikern, die keine Visionen haben, den Gang zum Mediziner zu verschreiben.

Wie immer man inhaltlich zu früheren großen Zielsetzungen österreichischer Politik stehen mag – es gab sie zumindest, sei es das Selbstverständnis unseres Landes als Brücke zwischen Ost und West im Zeitalter des Kalten Krieges, die Teilnahme Österreichs an der europäischen Integration bis hin zum EU-Beitritt, die Liberalisierung des österreichischen Strafrechts (unter Kreisky und Broda), das Andenken einer öko-sozialen Marktwirtschaft (durch Riegler) oder die Sanierung des Budgets (unter Schüssel). Vergleichbare visionäre Projekte wird man in der heutigen, kleinformatig herbeigeschriebenen rot-schwarzen Regierung vergeblich suchen. Mehr oder weniger „brav“, aber lustlos werden Pflichtaufgaben abgehakt: Budget, Finanzausgleich, Beamten-Gehaltsrunde und so weiter.

Kleinliche Haarspaltereien

Politische Fragen komplexerer Natur, die auf einen Soll-Zustand in der Zukunft hin ausgerichtet sein müssten, gehen hingegen oft in gegenseitigem Misstrauen und kleinlichen Haarspaltereien unter. Bestes Beispiel ist die Bildungspolitik: Statt eine gehaltvolle, tiefgehende und möglichst umfassende Schul- und Bildungsdebatte zu beginnen, wird – oft unter standes- oder interessenspolitischen Vorzeichen – plakativ für und wider „Gesamtschule“ argumentiert. Die grundsätzlichen Fragen über die Zukunft des Bildungssystems und den Stellenwert von Schule, Bildung und Ausbildung in und für unsere Gesellschaft und unseren Staat im Jahr 2015 oder 2025 sind kaum eine Überlegung und schon gar keine Diskussion wert.

Oder nehmen wir die Bundesstaatsreform, die schon daran scheitern muss, dass in beiden Parteien mächtige „Landesfürsten“ daran interessiert sind, kein Jota ihrer – europäisch gesehen – mickrigen Kompetenzen abzugeben. Auch in der Gesundheits- und Sozialpolitik präsentierte uns die Koalition bisher eher taktische Sandkastenspiele als substanzielle, zukunftsfähige Reformkonzepte, die die Systeme auf längere Sicht hin absichern.
Und in der Europa- und Mitteleuropapolitik? Da überbieten sich heimische Politiker anlässlich der Erweiterung des Schengen-Raums auf unsere Nachbarn im Norden, Osten und Süden in hysterischen Sicherheitsparolen, in die auch Vertreter der Regierungsparteien einstimmen, statt die erfüllte Vision eines geeinten, freien (Mittel-) Europas als Tag der Freude, als Chance oder zumindest als positive Herausforderung zu begreifen. Rühmliche Ausnahmen im Chor der Populisten (wie Othmar Karas) blieben leider viel zu leise.

Pragmatisierte Koalition

Fazit: Die in der veröffentlichten Meinung als Normzustand charakterisierte, quasi „pragmatisierte“ Große Koalition ist in ihrer Neuauflage noch pragmatischer geworden. Es wird verwaltet, geregelt, normiert; je nach Bedarf können mit Zweidrittelmehrheit gerade anfallende lobbyistische Anliegen der Interessensvereinigungen im „Ruckzuck-Verfahren“ befriedigt werden. Da passt es auch hervorragend ins Bild, dass erst kürzlich die Sozialpartner und die Pflichtmitgliedschaft bei diesen Institutionen in den Verfassungsrang erhoben und somit auf „ewig“ festgeschrieben wurden. Nicht einmal Zyniker können glauben, dass die Regierung das unter visionärer Politik versteht. Die Oppositionsparteien auf der anderen Seite schwanken einmal mehr zwischen populistischer Fundamentalopposition und larmoyantem Selbstmitleid. Ehrliche Visionen, wie Österreichs Zukunft aussehen könnte und welche Rolle unser Land im internationalen Konzert spielen könnte, vermögen auch sie nicht zu vermitteln.

Nicht nur religiös inspirierte Politikerinnen und Politiker wären gut beraten, sich zumindest ein wenig von ihrem offiziellen Schutzpatron, dem Heiligen Thomas Morus, inspirieren zu lassen. Dieser große Humanist und englische Lordkanzler zeichnete sich nicht nur durch Konsequenz und Prinzipientreue aus, sondern gilt mit seinem Werk „De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia“ auch als Begründer der neuzeitlichen Utopien, als Vater politischer Visionen von Staat und Gesellschaft. Nun muss kein politischer Verantwortungsträger gleich ein gesellschaftliches Idealmodell entwickeln. Es täte unseren Parteien einfach gut, einmal aus dem Strudel pragmatischer Tagespolitik herauszuschwimmen und das programmatische Ziel vor dem (meist parteitaktisch gewählten) Weg zu definieren.

Politische Themenfelder, in denen längerfristige politische Visionen gefragt sind, gibt es genug, etwa die ökologische und soziale Abfederung der (prinzipiell begrüßenswerten und unumkehrbaren) Globalisierung, die Gewährleistung eines (Über-)Lebens in Würde für Kranke und Alte in einer immer älter werdenden Gesellschaft, die Definition der Rolle Österreichs im Rahmen der Europäischen Union und gegenüber seinen mitteleuropäischen Nachbarn oder die Sicherstellung der Menschenwürde angesichts einer immer größeren Menge sensibler Daten, die von uns gespeichert werden.

Mangel an intellektueller Begegnung

Die politische Arbeit in den Klubs ist – durchaus nachvollziehbar – auf die Tagespolitik konzentriert; die Parteizentralen fungieren heute hauptsächlich als Organisations- und Marketingapparate. Woran es aber oft mangelt, sind Orte, an denen intellektuelle Begegnung stattfindet und Visionen über den pragmatischen Alltag hinaus entwickelt werden können. Damit sollen Diskussionen und Ansätze visionärer Vordenkarbeit wie beispielsweise der „Perspektivenprozess“ der ÖVP unter Josef Pröll keinesfalls gering geachtet werden. Die innerparteiliche Diskussion hat aber gezeigt, wie viel (= wenig) Chance dort entwickelten christdemokratische Visionen haben, wenn sie das standes- und interessenspolitische Blickfeld zu überwinden versuchen!
Ich wünsche Österreichs Politik für das neue Jahr mehr Esprit, mehr Fantasie und vor allem mehr Mut zu Visionen!

Christian Mertens ist Historiker und Mitbegründer der sozialliberalen „Initiative Christdemokratie“ (ICD).

 
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