Das Geheimnis lüften
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"Geheimes Österreich" lautete der erste Teil des Essays zur Republik, in dem eine Position der radikalen Mitte zur Transformation der Republik formuliert wurde. Im zweiten Teil soll das Gegheimnis gelüftet werden: Schätze heben, Talente bergen. Reformen sind notwendig - und sie dürfen keinesfalls Stückwerk bleiben.

Von Thomas Köhler und Christian Mertens

 

Im ersten Teil des Essays (erschienen in der FURCHE Nr. 46) schilderten die Autoren – ausgehend von manchen als grotesk gewerteten Ereignissen rund um Österreichs Feiertag nationaler Souveränität – verheerende Missstände in der heute mehr denn je an kleinem Geist und kleiner Seele leidenden Alpenrepublik, die nicht zuletzt in deren ständischer und medialer Verfasstheit, im Bildungswesen als Stückwerk sowie in deren außenpolitischer Desorientierung gründen. An die Stelle von permanenter Introversion und skurriler Nabelschau müssen endlich weltläufige Extraversion und europäischer Vergleich treten. Im Potenzial von Wissen und Kunst liegt Österreichs Geheimnis verborgen. Bisher ist dieses viel zu wenig geschöpft worden. Partes pro toto werden nun weitere Anstöße gegeben.

Das Geheimnis lüften: Schätze heben, Talente hegen
Aufklärerisch und humanistisch gesprochen: Was bisher verborgen blieb, muss künftig nach außen treten. Ein zentraler Fokus: Zu viele Talente lagen und liegen brach, als dass nicht endlich effiziente und effektive Strukturen – nicht zuletzt im Bildungswesen vom Kindergarten bis zur Hochschule – geschaffen werden, um Österreichs vielfältige Schätze wirksam und sichtbar zu heben. Gerade das Schulwesen bedarf einer echten Reform an Haupt und Gliedern und keines weiteren Stückwerks, um aus seiner „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Stichwort: Permanenzdebatte Lehrerdienstrecht usw.) nachhaltig herauszukommen. Für Lehrende wie Lernende gleichermaßen bedeutend: Begabungsforschung und Kreativitätsmotivation sowie Leistungsförderung und Qualitätssicherung heißen die Maximen eines aus einem einzigen Guss zu formenden und nicht an allen Ecken und Enden „ideologisch“ überfrachteten und ausgefransten Bildungswesens.
 Wer das Subsidiaritätsprinzip richtig versteht, kann heute gar nicht anders denken und handeln: Zumindest manche Bundesländer müssen zusammengelegt werden und weiterer Zersplitterung des Gesamtstaates ist Einhalt zu gebieten. Diese Forderung ist zwar weder alt noch neu – aber aktueller denn je. Wie sich am Beispiel des hybriden Gesundheitswesens zeigt: Ein sich übertrieben verästelnder Föderalismus birgt zu viel Intransparenz in sich und bringt zu viel Inkompetenz hervor.
Dass die Landtage inzwischen über kaum mehr relevante Gesetzesmaterien verfügen und der Bundesrat einst wie jetzt eine quantité négligeable darstellt, muss nicht extra betont zu werden. Weitere Exempel ließen sich statuieren. Ein Föderalismus also, der dem ihm zugrunde liegenden „Foedus“ zuwiderläuft, wird buchstäblich vertragsbrüchig – in Österreich wie Europa.

Grundsätzlicher Reformbedarf, kein weiteres Stückwerk
Als anderes Beispiel zum grundsätzlichen Reformbedarf: Eine der besten Ideen der 1990er Jahre war die von Josef Riegler entworfene und unter seinem Nachfolger aus Eifersucht oder Nachlässigkeit nicht weitergedachte „Öko(logisch)-Soziale Marktwirtschaft“.
In diesem Kontext diskutiert man im Finanzwesen seit geraumer Zeit ohne Unterlass über eine Entlastung des Faktors Arbeit durch äquivalente Belastung des Faktors Vermögen. Die ÖVP – aus deren Reihen wie erinnerlich der Schöpfer des Konzepts stammt – opponiert heute gleich doppelt dagegen: Zum einen steht ihr Bauernbund neuen Einheitswerten von Grund und Boden strikt ablehnend gegenüber und zum anderen ruft sich ihr Wirtschaftsbund zum Hüter des von Vermögenssteuern angeblich am meisten betroffenen Mittelstands auf. Im Hintergrund reibt sich die Industriellenvereinigung jedenfalls die Hände.
Dass die Wirtschafts- und Gesellschaftspartnerschaft neben dem ökonomischen und sozialen um einen ökologischen Faktor erweitert und (Stichwort: Einhaltung des Kyoto-Ziels) ebenso zu einer Umweltpartnerschaft werden muss, ist eine weitere erhebliche Forderung, die – seit Jahren von kritischen Köpfen erhoben und immer wieder „abgewürgt“ – nichts von ihrer Aktualität verloren hat!

Ein großer Wurf: Radikale gegen Extreme
Österreich braucht also einen großen Wurf. Die Frage aber lautet: Wer stößt einen solchen Prozess der Transformation an, wer wird dabei zwangsläufig angestoßen, wer stößt sich daran und wer wird dadurch eventuell verstoßen? Es ist eine radikale politische Mitte, die anstößt, es sind die Funktionsträger der Politik, die angestoßen werden und sich daran vielleicht stoßen, und es sind die Vertreter der extremen Beharrung, die dadurch letztlich verstoßen würden!
Nicht nur im Diskurs des Kleinstaats wird leider immer wieder vergessen: „Radikal“ ist nicht gleich „extrem“. Im Gegenteil: Die Wurzel (radix) kann und muss mit ihren Enden (extrema) ebenso wenig ident sein wie eine Grundidee mit ihren Auswüchsen. Zwischen Radikalität und Extremismus zu differenzieren ist daher prinzipiell richtig und wichtig.
Herunter gebrochen auf unseren Appell heißt das: Politisch bewusste Personen werden in ihrem Ansporn radikaler Mitte und in ihrem Bestreben nach profunder Transformation den vehementesten Widerstand bei jenen Figuren inner- wie außerhalb der Politik antreffen, die von den extremen Perversionen des vielerorts verlotterten Systems am meisten profitieren.

Fortschreitend bewahren: mit Phantasie
Während beharrende Kräfte der (vor)herrschenden Klassen dieses bis ins letze Extrem und Detail für sich auszunützen und auszubeuten trachten, werden radikale Bewahrer maßvolle Veränderung stets befürworten und in allen Bereichen (wie oben) immer wieder zur Um- und Neugestaltung aufrufen.
Dabei wären Abwägung und Einbindung von Visionen und Utopien – gerade außer- und ungewöhnliche aus Wissen und Kunst – explizit nicht verpönt, sondern (neu für den alpenrepublikanischen Kleingeistseelenstaat) herzlich willkommen.
Somit haben wir es in toto mit einer Art Kampf Radikale gegen Extreme, Bewahrer gegen Beharrer und „Phantasten“ gegen „Parasiten“ um Österreichs Fortschritt zu tun.

Hobel und Hebel
Anzusetzen wäre – symbolisch gesprochen – der Hobel der Transformation bei jenen Funktionären, die eben nicht Homines Politici sind und „Politik betreiben“, als wäre diese ein Beruf wie jeder andere und keine Berufung zum Gemeinwohl.
Dies beträfe wohl nicht nur große Teile der Politik im engeren Sinn, sondern auch solche der Gewerk- und Genossenschaften, Standesvertretungen, Tarifpartner und Kammern etc. Auch manche Vertreter der Medienklasse könnten sich im warmen Nest ertappt und vom hohen Ross gestoßen fühlen (Stichwort: Ein Ethik-Rat ohne Sanktionspotenzial bringt nichts). Desgleichen die einen oder anderen hetzerischen Blogger und Poster der extremen Spott- und Spaßgesellschaft im Netz, die ihrer Anonymität enttarnt würden und mit ihrer „Hasspredigt“ plötzlich „nackt“ dastünden. Späne müssen nun ‘mal fallen …
Zur Umsetzung dessen stellte auf öffentlichem Druck  hin (einer conditio sine qua non) ein neues Wahlrecht sicher den besten Hebel dar. Jene „Silberrücken“-Initiativen haben recht, die anstelle des alten Verhältnis- ein neues Mehrheitswahlrecht einmahnen. Allein dieses wäre der Garant für frischen Wind im muffigen System der „drei plus zwei Gewalten“.
Um Auswüchsen im Föderalismus usw. Herr zu werden sowie Österreich innen- wie außenpolitisch überhaupt und prinzipiell neu aufzustellen, könnte darüber hinaus eine baldige Änderung des EU-Vertrags in Brüssel für Wien vielleicht der willkommene Anlass für Österreich sein, selbst in eine Diskussion über die Grundfesten einzutreten und sich neu aufzustellen. (Prozessuale Fehler des „Verfassungskonvents“ nach 2000 sollten dabei entschieden vermieden werden.)
Wissen und Kunst sowie Qualitätsmedien – wie angesprochen – vehement und energisch zu fördern, das Bildungswesen endlich in sich kohärent zu gestalten, sowie sich ein zwischen den Parteien außer Streit gestelltes längerfristiges außenpolitisches Konzept im Kontext mit den Nachbarn zu geben – all das und vieles mehr wären mit einer neuen Verfassung für Österreich verbundene Themen, die es von einer alten in eine neue Republik führen würden.

Kairós: sich neu erfinden
Natürlich ist Österreich nicht Frankreich, dem es – Republik um Republik – immer wieder erstaunlich gelang, sich neu zu erfinden. Trotzdem: So vereint wie in der Diagnose, dass Österreich hic et nunc dringende Reformen von Grund auf und nicht nur oberflächliche Novellen benötigt, waren öffentliche und veröffentliche Meinung in der ansonsten so verknöcherten Alpenrepublik fast noch nie.
Ein Zeitfenster neuen Anspruchs scheint sich für Österreich aufzutun: geboren aus offensichtlich innenpolitischer Not und gewachsen in deprimierend internationalem Vergleich des Kleinstaats.
 Nützen wir den Kairós und vertrauen wir radikalen Utopien, setzen wir den Hobel an und bedienen wir die Hebel, wagen wir einen großen Wurf und lüften wir Österreichs Geheimnis für die Zukunft, damit es bewahrt wird!

„Da in den äussersten nöten 
Sannen die untern voll sorge
Holten die himmlischen gnädig
Ihr letztes geheimnis … sie wandten
Stoffes gesetze und schufen
Neuen raum in den raum.“

GEHEIMES DEUTSCHLAND
Stefan George

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Dr. Thomas Köhler und Mag. Christian Mertens arbeiten wissenschaftlich. Aktuelle Publikationen als Herausgeber: „Jahrbuch für politische Beratung 2010/2011 – Eine klassische Alternative“ (Böhlau) sowie „Charaktere in Divergenz – Die Reformer Josef Klaus und Erhard Busek" (edition mezzogiorno bei PROverbis).

 
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