Eine letzte Chance der Zweiten Republik Drucken

Der Reformdruck in Österreich ist gewaltig. Diese Reformen endlich anzugehen, sind wir den nachfolgenden Generationen schuldig.

Thomas Köhler und Christian Mertens

 

Schon seit Jahren erleben wir gravierende Symptome der Krise, ja der Agonie politischen Denkens und Handelns in Österreich. Der politisch interessierte Bürger reagiert teils mit Abwendung und Desinteresse, teils mit Ärger und Protest.

Statt strukturell nachhaltige wirtschafts-, gesellschafts- oder kulturpolitische Visionen zu entwickeln und einen weltanschaulichen Wettbewerb zwischen den Parteien zu forcieren, gerät Politik mehr und mehr zu einem Pseudo-Management aktueller „Sachzwänge“. Konfliktträchtige und langfristige Themen werden weitgehend ausgespart.

Weitverbreitete Reformresistenz

Als besonderes Hemmnis, die anstehenden Probleme an der Wurzel zu packen (also „radikal“ zu lösen), erweist sich die Reformresistenz mancher Interessenvertretungen und mancher Bundesländer. Gerade jene Bereiche, in denen sich schon bisher ein immenses Ausmaß an Reformunwillen angesammelt hat, werden beharrenden Kräften mit gruppenspezifischen Eigeninteressen überlassen.

Die Egoismen der Teile ruinieren das Ganze. Aktuellste Sünde: Im geplanten neuen Lobbyismusgesetz genießen Kammern „natürlich“ ein abgesichertes Privileg gegenüber anderen Lobbyisten.

Zu fragen ist: Welchen Anspruch stellt Österreich denn an seine Zukunft? Wo bleiben die prinzipiellen Visionen, wie die Republik in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren verfasst sein soll beziehungsweise wie den demografischen, ökonomischen oder sozialen Entwicklungen kulturell zu begegnen ist?

Politik bedarf couragierter Perspektiven, um große Vorhaben zu verwirklichen und Menschen Hoffnungen zu vermitteln. Ansonsten suchen diese Trost bei den Anbietern populistischer Komplexitätsreduktionen.

Der anstehende Reformdruck in Österreich ist gewaltig. Die an allen Ecken und Enden offensichtlich werdenden strukturellen Sackgassen und Einbahnen an nachfolgende Generationen abzuwälzen, ist grob fahrlässig und weder vor einer sozial- noch einer christdemokratischen Programmatik zu rechtfertigen.

Wer zu spät kommt ...

Einige drastische Beispiele: Wann kommt eine Bildungsreform, die weniger die Schwächen („Wie viele Fünfer dürfen's denn sein?“) als die Stärken der Lernenden und Lehrenden (!) zum Fokus hat? Wann endlich errichten wir ein Mehrheitswahlrecht – nicht nur zur partiellen „Verwaltungs-“, sondern – zur echten Staatsreform an Haupt und Gliedern beziehungsweise gegen die negative Auslese politischer „Eliten“ (Stichwort „Ochsentour“), die eine solche bisher „erfolgreich“ verhindern?

Nicht zuletzt: Wann überwindet die Politik ihre Angst – nicht vor dem „Boulevard“, sondern – vor der „Gosse“ und erwägt eine Medienreform zur Stärkung des Qualitätsjournalismus?

Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte. Keiner möge mit der Ausflucht kommen, Reformen wären beim Wähler unpopulär. Nicht der vermeintlichen Maßnahmen von SPÖ und ÖVP, sondern des tatsächlichen Stillstands in der Koalition wegen werden die diversen „Straches“ rechts wie links der Mitte gewählt.

„Griechische Zustände“?

Sollen nicht bald „griechische Zustände“ grüßen, müssen jetzt die Anker in Richtung Reform gelichtet werden. Ein chinesisches Sprichwort besagt: Kommt eine steife Brise auf, bleiben die einen im Hafen und setzen die anderen die Segel. Österreichs Kompass steht auf Bewegung. Es ist die letzte Chance einer von SPÖ und ÖVP geprägten Zweiten Republik.

 

Thomas Köhler und Christian Mertens arbeiten als Wissenschaftler und Publizisten in Wien. Im Herbst erscheint das von ihnen herausgegebene neue „Jahrbuch für politische Beratung 2010/11“ mit Beiträgen u. a. von Anton Pelinka, Peter Kampits und Peter Filzmaier.