Mehr Mut zu christdemokratischen Visionen! Drucken

Nutzt die ÖVP unter Michael Spindelegger ihr programmatisches Potenzial zur Überwindung des politischen Stillstandes?

Christian Mertens

Von der Quelle her kommend versorgt der Fluss die Landschaft, die er mit seinen Armen durchzieht, mit wichtigen Sedimenten und Nährstoffen. Dieses Bild – passend zu einem österlichen Ausflug in der Au – symbolisiert den Anspruch an eine Weltanschauungspartei wie die ÖVP: Gleich dem bedachten Verlauf eines Stromes in Mäandern bedarf es auch hier der Zeit, das heißt des Vor-, Mit- und Nachdenkens, um das belebende Quellwasser (in unserem Bild die Werte, Grundsätze) „sickern“ zu lassen.

Mit anderen Worten: Politik bedarf langfristiger Strategien, um große Vorhaben verwirklichen und den Menschen Ausblicke, Ziele  sowie Hoffnungen vermitteln zu können. Es täte der ÖVP (wie allen anderen österreichischen Parteien) gut, aus dem Strudel pragmatischer Tagespolitik herauszuschwimmen, wirtschafts-, gesellschafts- oder kulturpolitische Visionen zu entwickeln und auf diesen Felder einen ehrlichen weltanschaulichen Wettbewerb auszutragen. Statt dessen gerät Politik mehr und mehr zu einem pragmatischen Management aktueller „Sachzwänge“. Dies mündet in einer „Politik auf Zuruf“, in einer Klientelpolitik (in der ÖVP begünstigt durch deren strukturelle Verfassung), die an ihrem möglichen Wähler maximierenden oder minimierenden Faktor ausgerichtet ist. Schuldbewusst sprachen in den letzten Tagen auch einige Spitzenpolitiker vom „Stillstand“, den es nun zu überwinden gelte.

Dabei wäre programmatisch fundierte Politik auf Basis eines christlich inspirierten Menschen- und Gesellschaftsbildes (Christdemokratie) aktueller denn je: Die Herausforderungen unserer Zeit, von der Wirtschafts- und Finanzkrise, der Möglichkeit mit Lebensmittelpreisen zu spekulieren (und dabei Hunger zu verursachen!) über die Ausgrenzung älterer und behinderter Menschen oder die Einflussmöglichkeiten von Gentechnik und Biomedizin auf unser Leben bis hin zur digitalen Vollerfassung des Menschen („gläserner Mensch“) zeigen, dass es gerade heute einer Politik bedarf, die Maß am Menschen und seinen individuellen Bedürfnissen wie Fähigkeiten nimmt, die den Freiheitsbegriff an Verantwortung bindet, die der Marktwirtschaft einen sozialen und ökologischen Ordnungsrahmen verpasst, die Menschen Leistung ermöglicht, ihnen aber dort unter die Arme greift, wo sie sich selbst nicht mehr helfen können (Subsidiarität; nicht gleichbedeutend mit pervertiertem Föderalismus).

Vor allem: Christdemokratische Politik steht weder im Gegensatz zu (Wert-) Konservativität noch zu Liberalität noch zu sozialer Gemeinwohlorientierung, sondern vereint in sich alle drei Facetten. Sie erschöpft sich nicht – wie oft falsch verstanden – in der sozialen Dimension („christlich-sozial“).

In den letzten Jahren gab es in der ÖVP einen Mangel an Orten, an denen intellektuelle Begegnung stattfand und wertbasierte Visionen über den pragmatischen Alltag hinaus entwickelt werden konnten. Michael Spindelegger kennt dieses Problem – wann wird er dessen Lösung angehen?

Der Historiker und Publizist Christian Mertens gab 2003 gemeinsam mit Thomas Köhler und Michael Spindelegger das Buch „Stromaufwärts. Christdemokratie in der Postmoderne des 21. Jahrhunderts“ sowie, erweitert um Christoph Neumayer, 2008 das Werk „Stromabwärts. In Mäandern zur Mündung – Christdemokratie als kreatives Projekt“ heraus.