Jenseits von Markt und Staat Drucken

Wer kümmert sich um die Zivilgesellschaft? Was und wie viel bleiben von ihr, wenn sich der Staat und der Markt alles an Einfluss und Zuständigkeit aufgeteilt haben? Doch die Zivilgesellschaft ist nötig, denn viele Ziele sind nicht mit Delegationen, sondern nur mit dem Engagement der Bürger erreichbar.

Thomas Köhler und Christian Mertens

In seiner viel beachteten Sozialenzyklika „caritas in veritate“ räumt Papst Benedikt XVI. der Zivilgesellschaft  und ihren Aufgaben breiten Raum ein. Teilen sich Markt und Staat ihre Einflusssphären untereinander monopolartig auf, gehen langfristig die zwischenmenschliche Solidarität und mit ihr Anteilnahme wie unentgeltliche Aktivitäten verloren. Zwischen dem „Geben, um zu haben“ (Tauschprinzip des Marktes) und dem „Geben aus Pflicht“ (auf Grundlage staatlicher Normen) müsse es einen starken Bereich für die Entfaltung des Gemeinschaftssinns geben. Es gibt keinen Markt der Unentgeltlichkeit ebenso wenig wie eine Haltung der Unentgeltlichkeit per Rechtsnorm verord-net werden kann. Markt und Politik sind auf Menschen angewiesen, die zu solidarischem, nicht auf Gewinn zielendem Handeln bereit sind.

Auch säkulare Wissenschafter haben die Bedeutung der Zivilgesellschaft (wieder)erkannt und fordern etwa das „Reformprojekt einer neuen bürgerli-chen Gesellschaft“ ein, wie dies der deutsche Historiker Paul Nolte getan hat. Er benennt dabei Aspekte wie moralische Nachhaltigkeit als Gegenpart zur Modernitätsdynamik, Stärkung persönlicher Verantwortung und Sinn für kulturelle Identität. Auch der grüne Vordenker Ralf Fücks, Vorstand des Heinrich Böll-Stiftung, ortet die Notwendigkeit „einer neuen Bürgerlichkeit“, in der sich das Leitbild der Zivilgesellschaft, die stärkere Betonung von Selbstverantwortung und Eigeninitiative sowie die Wiederentdeckung der Familie in einem neuen Verständnis, das auch allein erziehende Mütter und Väter mit einschließt, findet.

Während etwa in den USA Bürger ganz selbstverständlich mehr Eigenverantwortung tragen und ihre Probleme selbst in die Hand nehmen – eben zivilgesellschaftliches Engagement zeigen, war in Österreich oder Deutschland in den letzten Jahrzehnten davon kaum die Rede. Die meisten Länder Europas waren als Wirtschaftsgesellschaft und als Staatsgesellschaft erfolgreich – nicht zuletzt, weil sie lange Zeit wie selbstverständlich auf natürliche soziale Ressourcen wie Familie, Sitten, Traditionen oder Religion zurückgreifen konnten. Zeigten sich gesellschaftliche Probleme, riefen die einen nach dem Staat oder der Kommune, die anderen nach Wettbewerb und Markt zu deren Lösung. Insbesondere in Österreich dominiert oft ein Gefühl der Ohnmacht sowie eine gewisse Versorgungsmentalität, die in der gegenwärtig Finanz- und Wirtschaftskrise neue Nahrung erhält oder sogar bewusst geschürt wird. Auch die Auswüchse der bei uns verbreiteten Neidgesellschaft wird man in den Vereinigten Staaten wenig finden.

Subsidiarität und Solidarität müssen in enger Verbindung zueinander gesehen werden. Denn „wenn die Subsidiarität ohne die Solidarität in einen sozialen Partikularismus abrutscht, so ist ebenfalls wahr, dass die Solidarität ohne die Subsidiarität in ein Sozialsystem abrutscht, dass den Bedürftigen erniedrigt“ (caritas in veritate). Die Subsidiarität achtet die Würde der Person, in der sie ein Subjekt sieht, das imstande ist, anderen etwas zu geben. Sie ist das wirksamste Gegenmittel zu einem System bürokratischer Bevormundung und undifferenzierten „Gießkannen“-Denkens.

Das Leitbild der Zivilgesellschaft besagt, dass ein Gemeinwesen viele Ziele nur dann erreichen und viele soziale Übel nur dann bekämpfen kann, wenn es soziale Fragen nicht nur an den Staat oder die Kommune delegiert, sondern wenn es gelingt, das Engagement der Bürger zu mobilisieren. Der US-amerikanische Soziologe Robert D. Putnam konnte nachweisen, dass überall dort, wo Menschen aktiv sind und miteinander etwas unternehmen, d.h. die „social connectedness“ relativ hoch ist, die Arbeitslosigkeit oder die Rate der Drogenabhängigkeit geringer ist.

Was folglich fehlt, ist Anstoß zu zivilgesellschaftlichem Engagement und dessen Anerkennung und Aufwertung durch die öffentliche Hand. Engagierte Bürger wollen sich nicht als Lückenbüßer missverstanden wissen. Politik und Zivilgesellschaft sind gemeinsam aufgerufen, zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen – insbesondere, aber nicht mehr nur in den großen Städten – beizutragen, etwa in folgenden Bereichen:
· Wandel der Familienstruktur: Wie können beispielsweise Alltagssolidaritäten erbracht werden, die früher von Familien übernommen wurden?
· Einsamkeit und Ausgrenzung von modernen Informations- bzw. Kommunikationsmitteln als Erscheinungsformen neuer Armut: Durch welche Initiativen kann die Isolation etwa von älteren oder langzeitarbeitslosen Menschen durchbrochen werden?
· Subsidiäre Sozialpolitik: Wie können die öffentlichen Verwaltungen mehr die Rolle eines Moderators (Drehscheibe zwischen den vernetzten öffentlichen und privaten Initiativen einerseits und den Betroffenen andererseits) und Aktivators (Aktivierung brach liegender Ressourcen statt Administration sozialer Probleme) übernehmen statt bürokratisch zu reglementieren?
· Verfügbare Ressourcen durch längere Lebenszeiten: Wie lassen sich die oft brach liegenden Potenziale der „gewonnenen Generation“ nutzen? Welche Einsatzmöglichkeiten (z.B. Mentoring oder im Bildungswesen) bieten sich an?
· Wohn- und Sicherheitsprobleme in „belasteten Nachbarschaften“: Welche Alternativen gibt es zur totalen Überwachung des öffentlichen und zunehmend auch des privaten Raums (Stichwort „gläserner Mensch“)? Wie können nachbarschaftliche Netzwerke zur Problemlösung aktiviert/mobilisiert werden?
· Förderung kleinräumiger Kulturinitiativen: Wie lässt sich der Schwerpunkt auf kleinräumige, qualitätsvolle Initiativen, die Kreativität, Lebensgefühl und urbanes Flair fördern, verlagern?
· Etablierung einer „Kultur der Anerkennung“ als Anreizsystem für zivilgesellschaftliches Engagement: Wie können ehrenamtsfeindliche Strukturen, die durch Überstandardisierung und Überbürokratisierung gekennzeichnet sind, beseitigt werden? Auf welche Art und Weise könnten sich soziale Einrichtungen flexibler auf Angebote hilfsbereiter Bürger einlassen?

Als Vorbild kann beispielsweise das Münchner Projekt SINN (Senioren Initiative Nachhaltigkeits-Netzwerk) dienen. Diese Initiative der „Bürgerstiftung Zukunftsfähiges München“ will Menschen, die bereits im Ruhestand sind, Überblick und Orientierung geben, wie sie ihren neuen Lebensabschnitt sinnvoll gestalten können.

SINN will keine Patentrezepte für ein erfülltes Leben anbieten, sondern als Drehscheibe Interessenten für ein ehrenamtliches Engagement an die richti-ge Stelle vermitteln. Aus Kurzbeschreibungen von Initiativen und Organisati-onen wird erkenntlich, wer Ehrenamtliche mit welchen Qualifikationen sucht. Die Palette nachgefragter Kompetenzen und Tätigkeiten reicht dabei von Projektbegleitung über das Werben um Spenden, die Organisation von Veranstaltungen, den Entwurf oder die Pflege einer Internet-Homepage oder Buchhaltung bis hin zu sozialen Kompetenzen (Umgang mit Kindern, Senioren, Behinderten), handwerklichen Fähigkeiten (Reparaturen), künstlerischen Fähigkeiten für Veranstaltungen (Malen, Zeichnen, Musik, Schreiben) oder ju-ristischen Kompetenzen.

Wie oben ausgeführt, ist zivilgesellschaftliches Engagement tief im Wesen der christlichen Soziallehre verankert, inspiriert durch deren Prinzipien Solidarität und Subsidiarität. Entspräche es nicht dem programmatischen Selbstverständnis der ÖVP als christdemokratischer Partei, sich zu dem Lobbyisten bzw. Ansprechpartner der Zivilgesellschaft (die im Grundsatzprogramm 1995 noch mit keiner Silbe erwähnt ist) und den Anliegen ihrer Träger zu machen?

Die Wissenschafter Thomas Köhler und Christian Mertens sind Mitbegründer der sozialliberalen „Initiative Christdemokratie“ (ICD). Vor einigen Monaten erschien das gemeinsam mit Christoph Neumayer und Michael Spindelegger herausgegebene Buch „Stromabwärts. In Mäandern zur Mündung – Christdemokratie als kreatives Projekt“ im Böhlau-Verlag.