Von falschen und wünschenswerten ÖVP-Signalen Drucken

von Christian Mertens und Christoph Konrath 

„Der ÖVP geht es um die Menschen“ ist zu einem zentralen Slogan der Kampagne um Wilhelm Molterer in diesem Wahlkampf geworden. Tatsächlich betont die sich in ihrem aktuellen Grundsatzprogramm christ(lich-)demokratisch definierende Partei die„Achtung der Menschenwürde der Ausgangspunkt unseres politischen Handelns“. In der laufenden Wahlauseinandersetzung freilich unternimmt sie anscheinend vieles, um den Abfluss von Wählern hin zu extremen und gemäßigten populistischen Parteien rechts wie links zu minimieren. Aber läuft sie mit dieser Politik nicht Gefahr, gerade jene Österreicherinnen und Österreicher zu verlieren, denen es – etwa aus religiöser Inspiration heraus – in besonderem Maß eben um die Menschen und deren personale Anliegen geht? Ein Appell zum Nach-, Überdenken und Vordenken.

Beispiel Asyl- und Integrationspolitik: Wahlprogramm und verbale Aussagen führender Repräsentanten sehen Migranten sehr stark unter dem Aspekt von (potenzieller) Kriminalität und Sicherheit. Begriffe wie „Hassprediger“, „religiöser Fanatismus“, „Asylmissbrauch“ oder „Kulturverbrechen“ ziehen sich wie ein roter Faden durch die Argumentation. Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich gibt es all die genannten Probleme, auf die mit aller Konsequenz die Normen des Strafrechtes angewandt werden müssen (und werden). Aber niemand sollte bewusst oder auch nur ungewollt suggerieren, diese wären zwangsläufig kultur- oder religionsinhärent. Damit besorgen manche Repräsentanten der ÖVP nämlich leider das Geschäft extremer Atheisten wie Richard Dawkins, der jeden Glauben per se einem Fundamentalismusverdacht aussetzt, oder der Kulturkampf-Apologeten um Samuel Huntington, die den „clash of civilizations“ als vermeintlich unentrinnbares Zukunftsszenario predigen.

Vor Pauschalisierungen muss gerade in der sensiblen Integrationsdebatte gewarnt werden: Es gibt nicht eine Migrantenszene, sondern eine Vielzahl von Milieus, aufbauend auf unterschiedlichen kulturellen, religiösen und sprachlichen Hintergrund und in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen verankert. Stünde der ÖVP nicht das Konzept des „aufgeklärten Multikulturalismus“ des deutschen Integrations- und Menschenrechtsexperten Heiner Bielefeldt näher, der den gesellschaftlichen Wertekonsens über die Menschenrechte definiert, die ihrerseits durch das christliche Menschenbild beeinflusst sind und Freiheit sowie Gleichberechtigung der Menschen garantieren, andererseits aber auch die Grenzen dessen aufzeigen, was im Rahmen kultureller oder religiöser Vielfalt akzeptiert werden kann. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des säkularen Staates räumt auch den zugewanderten Menschen das in der Freiheit des Menschen begründete Recht ein, sich öffentlich zu einer Religion zu bekennen, ihr Leben ihrem Bekenntnis entsprechend sowohl als Individuum wie auch in Gemeinschaft mit Anderen (öffentlich) zu gestalten. Eine assimilatorische wie auch eine interventionistische Politik (à la Türkei) wird dadurch ausgeschlossen.

Gerade Christdemokraten verpflichten sich in ihren Grundsätzen dazu, Maß an den Menschen und ihren persönlichen Bedürfnissen zu nehmen, sie in ihrer Verschiedenartigkeit anzuerkennen, aber auch als Ressource und Bereicherung wahrzunehmen. Dies bedeutet, den vertrauensbildende und Missverständnisse (auf allen Seiten) überwindenden Dialog als Basis einer gelungenen Integrationspolitik zu fördern. Es gibt überdies mit Migranten – etwa im Bereich der Familienpolitik, in Fragen des bürgergesellschaftlichen Engagement oder der Klein- und Mittelbetriebe – oft mehr Gemeinsames als viele in der ÖVP bislang annehmen. Die Frage der Religionszugehörigkeit kann dabei kein Thema sein: Christdemokratische Politik ist keine konfessionelle Politik; vielmehr ein ethischer Appell religiöser Inspiration.

Beispiel Restitutionspolitik: Das Finanzministerium machte kürzlich einen Rückzieher vom vereinbarten Text zur Novellierung des Kunstrückgabegesetzes, das bestehende Lücken bei der Rückgabe von NS-Raubgut sanieren soll – verständlich der darauf folgende Aufschrei der Israelitischen Kultusgemeinde. Zur Verdeutlichung: Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im März 1938 wurden unzählige Österreicherinnen und Österreicher, insbesondere Juden im Sinne der „Nürnberger Rassegesetze“, systematisch entrechtet und vielfach ihres Vermögens beraubt. Kunst- und Kulturgegenstände wurden ihren Besitzern oft entschädigungslos entzogen („Beschlagnahmungen“) bzw. mussten bei der Flucht oder Deportation von ihren Besitzern zurückgelassen werden. Andererseits sahen sich viele Privatpersonen, die in ihren Berufs- und Verdienstmöglichkeiten massiv eingeschränkt waren, genötigt, Gegenstände aus ihrem Besitz – oft unter ihrem Wert – zu verkaufen.

Öffentliche Einrichtungen (Museen, Galerien, Bibliotheken) beteiligten sich am Konkurrenzkampf um die kostenlos oder günstig angebotenen Objekte ebenso wie private Kunstliebhaber. Die medial bekannt gewordenen Fälle Millionen schwerer Gemälde von Klimt oder Schiele bilden die rare Ausnahme. In der Masse geht es um Alltagsobjekte, materiell unbedeutende Landschaftsbilder oder Bücher mit persönlichen Widmungen. Den Geschädigten bzw. deren Erben ist es dabei ziemlich egal, ob sich eine öffentliche Stelle oder ein Privater an ihrem Besitz bereichert hat. Es geht um den legitimen Wunsch von Menschen, geraubte Objekte (zu denen es oft eine hohe emotionale Beziehung gibt, weil sie die letzte Erinnerung an den ermordeten Onkel oder Großvater sind) wieder zurück zu bekommen. Auf den Applaus jener, die der Meinung sind, Österreich habe „denen“ ohnehin schon „genug gezahlt“, kann die ÖVP getrost verzichten.

Beispiel innerparteiliche Kommunikation/Personalauswahl: Stellvertretende Parteivorsitzende, zwei Frauen, werden zunächst als Stars hochstilisiert, ehe man sie wie in Wien oder Tirol ohne mit der Wimper zu zucken wieder schasst. „An den Früchten werdet ihr sie erkennen“: Die Vergabe der Personalia spricht Bände – leider die falschen, fatal die falschen. Sie folgen der bündischen Struktur der ÖVP, einem Relikt des Ständestaats, das europaweit seinesgleichen (Gott sei Dank nicht mehr) sucht. Und: Ändert die Volkspartei ihre Struktur und die damit verbundene „Eliten“-Auswahl ihrer Kandidaten nicht schleunigst – ist jede „Perspektivendiskussion“ zum Scheitern verurteilt. Denn Personen müssen Inhalte transportieren. Reichen Beamte, die letzten Greißler und Bauern aber dazu aus?

Die ÖVP muss aufpassen, dass sie mit manchen ihrer strukturgebundenen Aussagen nicht jene Wählerinnen und Wähler vor den Kopf stößt, die in den Grundsätzen (nicht Strukturen!) der Partei den Garant dafür sehen, dass diese in ihrer Politik Maß an den Menschen nimmt. Die oben skizzierten atmosphärischen Signale werden genau gehört, von kritischen Gläubigen und ehrenamtlichen Mitarbeitern in Hilfsorganisationen genauso wie von wechselbereiten urbanen Wählerschichten. Auch der lächelnde Hinweis, man möge sich nicht aufregen, es sei „eben Wahlkampf“, stellt diese Gruppe nicht zufrieden. Deren Repräsentanten – oft freiberuflich Tätige, Kultur Schaffende, höhere und mittlere Angestellte im Dienstleistungssektor, Studierende oder „aufgestiegene“ Vertreter der sogenannten „Zweiten Generation“ – sind wichtige Meinungsträger. Deren Entscheidung kürt besonders in den Städten Wahlgewinner und Wahlverlierer; auf ihre Stimme sollte die ÖVP nicht verzichten – auf manche ihrer bündischen Strukturen entsprungenen Personen aber sehr wohl!

Der Historiker Christian Mertens und der Jurist Christoph Konrath sind  Mitbegründer der sozialliberalen „Initiative Christdemokratie“ (ICD) in der ÖVP.